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Mein Insta fürs Post-Meta-Zeitalter

„Home“-Office

Ein Hauch von Freiheit weht durch die chronisch überarbeitete Gesellschaft. Für den einen heißt es, den Laptop mit in die Badewanne zu nehmen und für die andere, die Gartenarbeit zu erleigen, während das Telefon zumindest auf laut gestellt in Reichweite liegt, falls die Arbeit ruft: Das Home-Office. Je nachdem, wie gut man sich anstellt, gewinnt man viel Freizeit – oder holt sich den Bürostress ins private Wohnzimmer.

Mit Bluetooth Headsets ist es noch verlockender geworden, in jeder erdenklichen Situation erreichbar zu sein. Wem ist es noch nicht passiert, dass beim Einkaufen oder Spazieren das Gegenüber aus dem Nichts ein Gespräch anfängt? Ich habe dem plötzlich Grüßenden sogar schon geantwortet, bevor ich die kleinen Knöpfe im Ohr überhaupt bemerken konnte.

Neulich steige ich mit meinem Rad in die Bahn. Bis auf einen interessanten Herren ist das Fahrradabteil leer. Der Mann trägt einen etwas älteren Jogginganzug, Slipper aus Wildleder und einen gelben Hut. Er lächelt freundlich, während er seinem Gesprächspartner oder seiner Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung zu verstehen gibt, dass jemand zugestiegen ist. Unter seinem Hut, kaum zu übersehen, ein paar große Over-Ear Kopfhörer: Ein antikes Modell mit gutem alten Klinkekabel. Das Kabel führt zu seiner Stirn, wo er einen Bluetooth Adapter unter seinen Hut geklemmt hat. Der Empfänger ist etwas klobig, rutscht aber nur selten heraus. Das Handy steht halbwegs stabil zwischen Sitzbanklehne und Fenster, mit Display und Videoübertragung auf ihn gerichtet, während er mittig im Abteil steht.

Seine Arbeit scheint ihm Freude zu bereiten. Mit überzeugter Stimme verkündet er mir, er kenne keine Scham. Ich denke, wir verstehen uns, weil ich barfüßig auch nicht gerade der 08/15 Bahnfahrer bin. Er bietet mir an, seiner Sitzung beizuwohnen und wendet sich wieder seinem laufenden Call zu. Als nächstes käme Übung Nummer 4 – die kenne er oder sie noch von der letzten Sitzung. Der Mann stellt sich nun etwas breitbeiniger hin und senkt seinen Oberkörper erneut nach unten. „Jetz versuche mer mal mit de Fingerspitze so weit wies geht hinner die Füß zu komme! Drei Atemzüg langsam ein- un ausatme.“ Ich kann mein Lachen kaum unterdrücken, als beim ersten Ausatmen die Bahn holpert und der Bluetooth Empfänger aus dem Hut fällt. Dass er selbst nicht allzu weit mit seinen Händen auf den Boden kommt, stört kaum, da maximal sein Rücken im Blickfeld der Handykamera ist.

Die Jugendlichen im Vierer haben die Situationskomik mittlerweile auch erfasst und fangen auffällig an, zu tuscheln.

„Mir mache weider mit Übung 5. Die hatte mer noch net. Füße schulterbreit stelle un die Händ inn Rücke, direkt übern Pobbes. Da, wos weich is, schön nei drücke… Un jetz langsam nach hinne lehne.“

An nächsten Stopp muss ich raus. Ich stehe auf, stelle mich senkrecht zur Fahrtrichtung, drücke meine Hände in den unteren Rücken, übern Pobbes und lehne mich nach hinten. Erst kurz vorm Bahnhof verliere ich das Gleichgewicht.

Gern hätte ich auch die Person am anderen Ende der Leitung gesehen und stelle mir vor, wie sie vielleicht gerade beim Einkaufen zwischen Käsetheke und Tiefkühlkost ihre Gymnastik durchzieht.

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